Kleine ATC - Weisheiten ( 5 )

Wenn es Nacht wird über Deutschland

 

In diesem Teil der kleinen Serie geht es um eine Nachtschicht bei Rhein-Radar. Eigentlich wollte ich diesen Artikel schon lange schreiben, nachdem mit London, Frankfurt und München bislang ausschließlich TWR/APP-Units in den “Genuss meiner Schreibe” kamen. Allerdings spielt einem das Leben manchmal ganz böse Streiche. Man möge mir das als Pilot jetzt bitte verzeihen, ein sehr guter Freund von mir ist Fluglotse. Eben jener schwärmte mir öfter vor, dass er nachts immer directs über, europäisch gesehen, schier unmögliche Distanzen vergibt. Einer unserer Kollegen soll sogar von ZUE ( Zürich-East ) direkt bis HEL ( Helsinki ) gecleared worden sein. Da hab ich ihm gedroht ich würde mir das mal anschauen, zwecks Beweislage und so.

Die Vorbereitung

Vor gut eineinhalb Jahren hab ich ihn dann besucht und ihm erzählt wie ich die Geschichte aufbauen möchte, was alles mit rein soll usw. “Die Überschrift hab ich schon” vermeldete ich abends bei einem Glas Wein. “Wenn es Nacht wird über Deutschland”
Am nächsten Morgen weckte er mich mit den Worten: “Ich hab ne gute und ne schlechte Nachricht. Ich hab frische Brötchen vom Bäcker mitgebracht und heute Nacht gab es noch ne Midair” Es war der 1.Juli 2002. Eine tragische Verkettung von organisatorischen Unzulänglichkeiten, technischen Problemen und menschlichen Fehlern hatte 71 Menschen über dem Bodensee das Leben gekostet. Damit lag meine Geschichte erstmal auf Eis. Heute, über 18 Monate danach möchte ich dennoch über eine Nachtschicht bei Rhein-Radar in Karlsruhe berichten, was sich in der Zwischenzeit verändert hat und dass so ein Ereignis an einem Lotsen des benachbarten Sektors, obwohl selbst nie in verantwortlicher Weise beteiligt, nicht spurlos vorübergeht.
Nun ist so ne “heiße Kartoffel” nicht jedermanns Sache und viele Dinge in unseren Berufen werden sehr sensibel gesehen. Dank Manfred Kohl, dem Leiter des Karlsruher Safety Managements der DFS, in Absprache mit dessen Niederlassungsleiter und der DFS-Pressestelle war es dann aber doch sehr kurzfristig möglich eine Nachtschicht mitzumachen. Dass dafür auch noch extra einer der Lotsen aus der Überlingen-Nacht mit in diesen Dienst dazugeplant wurde zeugt schon von sehr großer Flexibilität.

Karlsruhe, 26. Januar 2004, 21:30Uhr

Andreas Lehmacher, der Wachleiter in dieser Nacht, holt mich am Eingang der Niederlassung Karlsruhe ab. Als Wachleiter muss er schon um 21:15Uhr im Dienst sein, während die Lotsen und Flugdatenbearbeiter der Nachtschicht erst eine Stunde später erscheinen. Dienstbeginn ist dann halb elf und die Viertelstunde davor ist für das Self-Briefing gedacht. Bei der Zahl der Amendments zu den Verfahren steht die DFS einem (zumindest meinem) Flugbetrieb in nichts nach. Auch hier wird schon paperless gearbeitet und die Lotsen informieren sich an kleinen Briefing-Computern über die aktuellen Änderungen in ihren Vorschriften und Betriebsabsprachen.
“Insgesamt sind wir in der Nachtschicht zehn Leute”, erklärt mir Andreas, “sechs Fluglotsen plus drei Flugdatenbearbeiter plus ein Wachleiter”. Noch zähle ich aber viel mehr Leute hier im Raum gebe ich zu bedenken. “Ja die letzten der Spätschicht gehen um 23:00Uhr, so dass sich die Dienste um eine halbe Stunde überschneiden. Manchmal könnten wir die auch noch länger gebrauchen bzw. würden sogar acht Lotsen für die Nacht benötigen. Besonders im Sommer, wenn die Flüge üblicherweise wieder zahlreicher werden, sitzen wir generell zu viert an den zwei offenen Positionen, also je Position ein Radar-Controller und ein Koordinationslotse“.

Karlsruher Zuständigkeiten ...

Moment, Moment, jetzt muss ich kurz einhaken zum Mitschreiben. Zuerst einige Worte zum technischen Hintergrund. Es gibt in Karlsruhe eine so genannte Ost-EBG und eine West-EBG. EBG steht für Einsatzberechtigungsgruppe und umfasst im Osten die Sektoren Frankfurt, Fulda, Würzburg und Erlangen sowie im Westen die Sektoren Nattenheim, Söllingen und Tango. Die Trennlinie zwischen Ost und West verläuft in Karlsruhe ganz grob von COL über Mainz Richtung Nördlingen. Die Außengrenzen entsprechen in etwa denen der Frankfurt- bzw. jetzt Langen-FIR.
 

 

Die einzelnen Sektoren sind dabei festen Arbeitspositionen zugeordnet. Zwar kann man vom Wachleitertisch aus jeder Position jede Frequenz zuordnen aber bei den Telefonverbindungen wird es etwas schwieriger. Dazu aber später mehr.
Die Zuständigkeitsbereiche werden je nach Verkehrsaufkommen oft auch noch vertikal geteilt, so dass z.B. tagsüber im Würzburg-Sektor bis zu sechs Lotsen arbeiten. In diesem Fall gibt’s dann, der offiziellen Redart folgend, einen Basic(FL250-FL300), Middle(FL310-FL350) und Top(FL350-UNL). Im Lotsenslang wird ein Sektor im oberen Luftraum in Karlsruhe aber vertikal in den “Lower”, “Upper-High” und “Top-Upper” geteilt, was im Prinzip das gleiche ist sich aber einfach schöner anhört. Zum Abend hin werden diese Sektoren sowohl vertikal als auch lateral nach und nach zusammengelegt, das heißt ein Lotse arbeitet einen immer größeren Bereich.
Die Sektoren der Ost-EBG werden dann alle auf den Sektor Frankfurt(132.330) vereinigt und die der West-EBG alle auf den Arbeitsplatz Söllingen(120.930). Beide Positionen sind aber im Kontrollraum physisch fast 15m voneinander entfernt. Deshalb hat man die Nachbarposition des Söllingen-“Lower”-Sektors so ausgerüstet, dass dort auch alle Funktionen des Frankfurt-Sektors zur Verfügung stehen.

... und die technischen Hintergründe

“Ich dachte immer ihr könnt auf jedem Arbeitsplatz jeden Sektor arbeiten?!”, stelle ich Andreas gegenüber eine Frage in den Raum. “Nein, Nein”, stellt dieser klar, “Wie vorhin schon erklärt können wir auf allen Position theoretisch alle Frequenzen rasten und auch jeden Sektor darstellen. Bei den Telefonverbindungen wird’s aber etwas schwieriger. Hierbei müsste man, von einem ‘sektorfremden’ Arbeitsplatz aus, die Koordination mit den benachbarten Sektoren überwiegend per vierstelligen Kurzwahlrufnummern abwickeln. Deshalb haben wir einen Arbeitsplatz im Westen so umgerüstet, das von dort aus die Koordination auch mit Direktwahltasten durchgeführt werden kann.”
Irgendwann zwischen elf und zwölf ziehen dann die Ost-Lotsen um und richtet sich seinen Arbeitsplatz neben dem Söllingen-Sektor ein. Dort arbeiten dann zwei Lotsen pro Sektor bis mindestens 0:00LT. Im Sommer oft auch bis nachts um zwei. “Manchmal könnte man im Sommer meinen die evakuieren die Insel” spielt Andreas Lehmacher auf den umfangreichen Charter-Verkehr ex Großbritannien an. Erst zwischen zwölf Uhr und vier Uhr morgens, bzw. im Sommer etwa zwischen zwei und vier wird nur noch mit einem Lotsen pro Arbeitsplatz der Verkehr kontrolliert.
 

 

“Das war auch schon vor Überlingen so”, ergänzt der Wachleiter, “nur haben wir diese Praxis nach dem Zusammenstoss nochmals intern überprüft und inzwischen in einer Entscheidungsmatrix per Dienstanordnung festgeschrieben. Bei weniger als rund 15 Flugbewegungen pro Stunde je EBG ist es absolut kein Problem dass der Verkehr von einem Lotsen alleine gemanaged wird. Außerdem sitzt ja immer der Kollege der Nachbar-EBG mit dabei und kann im schlimmsten Falle rechtzeitig beim Wachleiter Alarm schlagen, wenn es zu Schwierigkeiten kommen sollte. Zusätzlich dazu ist der Wachleiter selbst als ausgebildeter Lotse im Kontrollraum anwesend und auch immer einer der drei Flugdatenbearbeiter. Letzterer ist aber nicht als Lotse lizenziert”
Die Pausen werden bei den Karlsruhern ähnlich verteilt wie bei uns Fliegern auf den Langstrecken. Die Lotsen sollen nicht länger als zwei bis zweieinhalb Stunden an ihrer Position arbeiten. Dementsprechend endet die erste Pause so gegen halb eins, eins in der Nacht und die zweite kurz vor vier Uhr morgens. Dabei gibt es in Karlsruhe so genannte “Selbstwecker” und “Fremdwecker”. Die einen haben ihren Wecker selber mit und den anderen muss man Hinterhertelefonieren. “Ich geh jetzt in den Fernsehraum,” verabschiedet sich auch schon der eine “ihr braucht mich aber nicht wecken.” Aha, also ein “Selbstwecker”.

Karlsruhe, 27. Januar 2004, 02:15 Uhr

Inzwischen fühle ich mich etwas „schlapp“. Eigentlich hatte ich meinen Durchhänger für die Zeit zwischen drei und vier erwartet, aber so sehe ich mich gezwungen das “Napping” etwas vorzuziehen. Mittendrin in dieser Phase sehe ich, wie die Gegend um Köln-Bonn herum zum Leben erweckt. Die Nachtfrachter-Flotte der Paketdienste macht sich auf um das Rheinland wieder zu verlassen. “Man hört da auch immer die gleichen Leute”, merkt Andreas an. “Einmal kam einer mittags um zwölf. Also eine vollkommen ungewöhnliche Zeit für diese Nachteulen. Auf meine Frage wie er das den überlebe meinte der Pilot nur, dass er schon die Vorhänge zugezogen hat, damit er nicht zu Staub verfällt.” Eben ganz wie die norwegischen Trolle, die mit dem ersten Tageslicht zu Stein werden. Apropos Tageslicht, die Lufthansa und die South African aus Johannesburg kennzeichnen meist das Ende der Schicht. “Wenn die kommen, dann kann ich meist heimgehen”, freut sich ein anderer Lotse dieser Nachtschicht. Die geht allerdings noch bis viertel nach sechs.
Gegen vier kommt auch Frank wieder aus der Pause. Er war bis gegen halb eins schon einmal am Board gesessen und arbeitet jetzt noch bis zum Dienstende. War das nun ein “Fremd-“ oder “Selbstwecker” ?? Ich weiß es nicht mehr, denn so langsam freu ich mich selber schon auf die Jo’burg-Maschinen.

Die „Überlingen-Nacht“

Allerdings weiß Frank ein bisschen aus dem Nähkästchen zu plaudern. Er war einer der Lotsen, die in der Überlingen-Nacht aktiv am Radarschirm saßen, wenn auch im benachbarten Sektor. “Trotzdem hat das Ereignis schon Spuren hinterlassen.”, erzählt mir der 35jährige, “Der Kollege, der uns kurz darauf routinemäßig ablöste war jedenfalls ganz schön schockiert, als er uns sah. Der wusste sofort, dass da was schlimmeres passiert ist”.
“Schwierig zu handhaben war für mich persönlich der Hinweis eines Lufthansa-Fliegers,”, erzählt Frank weiter, “der in meinem Sektor flog und in der Nähe von Dinkelsbühl meldete, dass da gerade entweder eine Notrakete abgeschossen worden ist oder ein Flugzeug explodiert sei. Wir wussten ja zu diesem Zeitpunkt schon was passiert war und im Prinzip hat er unsere Beobachtung nur noch bestätigt. Nur, was sollte ich der Lufthansa-Crew sagen ??? Ich hab dann nur mit ‘Thanks for the information’ geantwortet, mehr fiel mir einfach nicht ein. Ich wäre aber doch neugierig, wie sich die Piloten in dem Moment gefühlt haben”.
Wir wollen hier nur noch mal festhalten, dass keiner der Unglücksflieger bei den Karlsruher Lotsen auf der Frequenz war und die Tupolew nur deshalb nicht durch die Sektoren von Rhein-Radar flog, weil sie zur Bestätigung ihrer RVSM-Tauglichkeit noch über eine Height Monitoring Unit in der Nähe von Linz fliegen musste und darum den Weg über die Schweiz wählte.
Ob er bzw. seine Kollegen durch dieses Ereignis ihre Arbeitsweise verändert haben will ich von Frank wissen. Dieser aber meint, “Nein, von uns hat eigentlich keiner seine Arbeitsweise verändert. Wir hatten ja beide schon jahrelange Erfahrung und sind es gewohnt routiniert und sicher zu arbeiten.” Trotzdem geht das natürlich nicht spurlos an einem Lotsen vorbei. Ein anderer Lotse aus “meiner” Nachtschicht erzählt mir, dass in der auf Überlingen folgenden Nacht schon eine sehr ungewohnte Stimmung geherrscht hat. “Alles wurde streng nach den Standardverfahren abgewickelt, praktisch keine directs und jede Flugbewegung zwei- und dreifach abgesichert. Allerdings hat sich das ganz schnell wieder normalisiert. Schließlich haben wir ja auch schon vor Überlingen sichere Arbeit geleistet.”
Frank hat die fragliche Nacht eigentlich verhältnismäßig gut verarbeitet. Er erzählte mir noch, dass er tags darauf eigentlich für eine Woche zu einem Freund nach Bremen fahren wollte und erwogen hatte diesen Urlaub abzusagen. “Aber das so kurzfristig abzusagen hätten dann meine Kinder nicht verstanden und im Endeffekt war es auch die richtige Entscheidung trotzdem zu fahren. Dadurch hab ich auch etwas räumlichen Abstand zu dem Ereignis gewinnen können”. “Allerdings”, so gibt Frank zu “hatte ich einige Zeit später plötzlich aus dem Nichts immer wieder mal Schweißausbrüche, und zwar nicht mal am Arbeitsplatz selbst sondern z.B. zu Hause oder beim Einkaufen. Ich war natürlich beim Arzt, aber der hat nur festgestellt, dass mit mir organisch alles in Ordnung ist. Inzwischen hat sich das jedoch wieder gegeben und ich arbeite immer noch sehr gerne in der Nacht”.

Die Aufarbeitung

Alle betroffenen Lotsen wurden vom CISM-Team der DFS über einen längeren Zeitraum betreut. Jörg Leonhardt ist bei der DFS Referent des Safety-Managments und in diesem Bereich zuständig für CISM und Human Factors. Er hat uns einige weiterführende Informationen zur persönlichen Aufarbeitung von “critical incidents” gegeben.
Übliche Reaktionen auf derartig “schockartige Ereignisse” findet man sowohl im körperlichen als auch im psychischen Bereich. Häufig ist eine erhöhte Alertness festzustellen z.B. das wiederholte Abfragen eines Readbacks um ganz sicher zu gehen und eine insgesamt vorsichtigere Arbeitsweise. Aber auch Abkapselung und Abschottung sind übliche Reaktionen. Mit der Zeit normalisiert sich das aber wieder, was auch immer ein Zeichen für die erfolgreiche Bewältigung eines kritischen Zwischenfalls ist. Dies kann allerdings je nach Typ, körperlicher Kondition und persönlichem Umfeld unterschiedlich lange in Anspruch nehmen. In der Regel ist das Ereignis je nach Betroffenheit jedoch nach etwa drei Wochen bis drei Monaten bewältigt.
Geeignete Maßnahmen für die Aufarbeitung sind jegliche Formen von Belastungsausgleich. Zum Beispiel Entspannungsübungen wie autogenes Training oder auch körperliche Betätigung beim Sport. Sehr wichtig ist aber auch den Kontakt und das Gespräch mit anderen zu suchen. Wenn nicht mit dem CISM-Team, so doch zumindest mit Kollegen. Dass jemand verhältnismäßig leicht über seine Erfahrungen redet ist auch immer ein Zeichen dafür, dass ein incident erfolgreich verarbeitet wird. Während nach größeren Ereignissen ein Gruppengespräch angeboten wird, ist im Lotsenalltag z.B. nach einer ernsthaften confliction eher ein Einzelgespräch üblich. Dies hat die DFS nicht nur in Karlsruhe, sondern zusammen mit anderen CISM-Beratern auch in den angrenzenden Niederlassungen inklusive Zürich angeboten.
Nach dem Vorbild und mit Unterstützung der DFS- und LH-CISM-Teams werden inzwischen bei vielen anderen Flugsicherungen und Airlines vergleichbare Teams geschult und aufgebaut. Die Erfahrung in Karlsruhe und Zürich hat gezeigt, dass diese Kollegen absolut ihre Daseins-Berechtigung haben.
CISM schön und gut, aber ich bin jetzt erst mal CT - “critically tired” und sehne mich nach 'nem Bett zum Ausschlafen. Freundlicherweise hat mir Peter, jener sehr gute Freund mit den Mega-Directs, schon mal ein Bett aufgebaut, in dem ich nach der zurückliegenden Nacht ausschlafen kann.
Eine persönliche Bemerkung zum Schluss. Man kann mir durchaus eine Affinität zu den Lotsen und deren Beruf nachsagen, aber ich habe auch einen wichtigen Teil deren Ausbildung sechs Monate lang an der DFS-Akademie in Langen miterlebt. Nicht weil ich selber einer werden wollte, sondern weil ich die sechs Monate Wartezeit zwischen Flugschule und Cockpit mit was Sinnvollem füllen wollte und dafür bei der DFS Arbeit fand. Ich denke man kann sich unseren DFS-Lotsen jederzeit anvertrauen und die Nachtschicht in Karlsruhe hat nur noch mal bestätigt, dass dies 24 Stunden am Tag gilt.