“Das war auch schon vor Überlingen so”, ergänzt der Wachleiter, “nur
haben wir diese Praxis nach dem Zusammenstoss nochmals intern überprüft
und inzwischen in einer Entscheidungsmatrix per Dienstanordnung
festgeschrieben. Bei weniger als rund 15 Flugbewegungen pro Stunde je
EBG ist es absolut kein Problem dass der Verkehr von einem Lotsen
alleine gemanaged wird. Außerdem sitzt ja immer der Kollege der
Nachbar-EBG mit dabei und kann im schlimmsten Falle rechtzeitig beim
Wachleiter Alarm schlagen, wenn es zu Schwierigkeiten kommen sollte.
Zusätzlich dazu ist der Wachleiter selbst als ausgebildeter Lotse im
Kontrollraum anwesend und auch immer einer der drei Flugdatenbearbeiter.
Letzterer ist aber nicht als Lotse lizenziert”
Die Pausen werden bei den Karlsruhern ähnlich verteilt wie bei uns
Fliegern auf den Langstrecken. Die Lotsen sollen nicht länger als zwei
bis zweieinhalb Stunden an ihrer Position arbeiten. Dementsprechend
endet die erste Pause so gegen halb eins, eins in der Nacht und die
zweite kurz vor vier Uhr morgens. Dabei gibt es in Karlsruhe so genannte
“Selbstwecker” und “Fremdwecker”. Die einen haben ihren Wecker selber
mit und den anderen muss man Hinterhertelefonieren. “Ich geh jetzt in
den Fernsehraum,” verabschiedet sich auch schon der eine “ihr braucht
mich aber nicht wecken.” Aha, also ein “Selbstwecker”.
Karlsruhe, 27. Januar 2004, 02:15 Uhr
Inzwischen fühle ich mich etwas „schlapp“. Eigentlich hatte ich meinen
Durchhänger für die Zeit zwischen drei und vier erwartet, aber so sehe
ich mich gezwungen das “Napping” etwas vorzuziehen. Mittendrin in dieser
Phase sehe ich, wie die Gegend um Köln-Bonn herum zum Leben erweckt. Die
Nachtfrachter-Flotte der Paketdienste macht sich auf um das Rheinland
wieder zu verlassen. “Man hört da auch immer die gleichen Leute”, merkt
Andreas an. “Einmal kam einer mittags um zwölf. Also eine vollkommen
ungewöhnliche Zeit für diese Nachteulen. Auf meine Frage wie er das den
überlebe meinte der Pilot nur, dass er schon die Vorhänge zugezogen hat,
damit er nicht zu Staub verfällt.” Eben ganz wie die norwegischen
Trolle, die mit dem ersten Tageslicht zu Stein werden. Apropos
Tageslicht, die Lufthansa und die South African aus Johannesburg
kennzeichnen meist das Ende der Schicht. “Wenn die kommen, dann kann ich
meist heimgehen”, freut sich ein anderer Lotse dieser Nachtschicht. Die
geht allerdings noch bis viertel nach sechs.
Gegen vier kommt auch Frank wieder aus der Pause. Er war bis gegen halb
eins schon einmal am Board gesessen und arbeitet jetzt noch bis zum
Dienstende. War das nun ein “Fremd-“ oder “Selbstwecker” ?? Ich weiß es
nicht mehr, denn so langsam freu ich mich selber schon auf die
Jo’burg-Maschinen.
Die „Überlingen-Nacht“
Allerdings weiß Frank ein bisschen aus dem Nähkästchen zu plaudern. Er
war einer der Lotsen, die in der Überlingen-Nacht aktiv am Radarschirm
saßen, wenn auch im benachbarten Sektor. “Trotzdem hat das Ereignis
schon Spuren hinterlassen.”, erzählt mir der 35jährige, “Der Kollege,
der uns kurz darauf routinemäßig ablöste war jedenfalls ganz schön
schockiert, als er uns sah. Der wusste sofort, dass da was schlimmeres
passiert ist”.
“Schwierig zu handhaben war für mich persönlich der Hinweis eines
Lufthansa-Fliegers,”, erzählt Frank weiter, “der in meinem Sektor flog
und in der Nähe von Dinkelsbühl meldete, dass da gerade entweder eine
Notrakete abgeschossen worden ist oder ein Flugzeug explodiert sei. Wir
wussten ja zu diesem Zeitpunkt schon was passiert war und im Prinzip hat
er unsere Beobachtung nur noch bestätigt. Nur, was sollte ich der
Lufthansa-Crew sagen ??? Ich hab dann nur mit ‘Thanks for the
information’ geantwortet, mehr fiel mir einfach nicht ein. Ich wäre aber
doch neugierig, wie sich die Piloten in dem Moment gefühlt haben”.
Wir wollen hier nur noch mal festhalten, dass keiner der Unglücksflieger
bei den Karlsruher Lotsen auf der Frequenz war und die Tupolew nur
deshalb nicht durch die Sektoren von Rhein-Radar flog, weil sie zur
Bestätigung ihrer RVSM-Tauglichkeit noch über eine Height Monitoring
Unit in der Nähe von Linz fliegen musste und darum den Weg über die
Schweiz wählte.
Ob er bzw. seine Kollegen durch dieses Ereignis ihre Arbeitsweise
verändert haben will ich von Frank wissen. Dieser aber meint, “Nein, von
uns hat eigentlich keiner seine Arbeitsweise verändert. Wir hatten ja
beide schon jahrelange Erfahrung und sind es gewohnt routiniert und
sicher zu arbeiten.” Trotzdem geht das natürlich nicht spurlos an einem
Lotsen vorbei. Ein anderer Lotse aus “meiner” Nachtschicht erzählt mir,
dass in der auf Überlingen folgenden Nacht schon eine sehr ungewohnte
Stimmung geherrscht hat. “Alles wurde streng nach den Standardverfahren
abgewickelt, praktisch keine directs und jede Flugbewegung zwei- und
dreifach abgesichert. Allerdings hat sich das ganz schnell wieder
normalisiert. Schließlich haben wir ja auch schon vor Überlingen sichere
Arbeit geleistet.”
Frank hat die fragliche Nacht eigentlich verhältnismäßig gut
verarbeitet. Er erzählte mir noch, dass er tags darauf eigentlich für
eine Woche zu einem Freund nach Bremen fahren wollte und erwogen hatte
diesen Urlaub abzusagen. “Aber das so kurzfristig abzusagen hätten dann
meine Kinder nicht verstanden und im Endeffekt war es auch die richtige
Entscheidung trotzdem zu fahren. Dadurch hab ich auch etwas räumlichen
Abstand zu dem Ereignis gewinnen können”. “Allerdings”, so gibt Frank zu
“hatte ich einige Zeit später plötzlich aus dem Nichts immer wieder mal
Schweißausbrüche, und zwar nicht mal am Arbeitsplatz selbst sondern z.B.
zu Hause oder beim Einkaufen. Ich war natürlich beim Arzt, aber der hat
nur festgestellt, dass mit mir organisch alles in Ordnung ist.
Inzwischen hat sich das jedoch wieder gegeben und ich arbeite immer noch
sehr gerne in der Nacht”.
Die Aufarbeitung
Alle betroffenen Lotsen wurden vom CISM-Team der DFS über einen längeren
Zeitraum betreut. Jörg Leonhardt ist bei der DFS Referent des
Safety-Managments und in diesem Bereich zuständig für CISM und Human
Factors. Er hat uns einige weiterführende Informationen zur persönlichen
Aufarbeitung von “critical incidents” gegeben.
Übliche Reaktionen auf derartig “schockartige Ereignisse” findet man
sowohl im körperlichen als auch im psychischen Bereich. Häufig ist eine
erhöhte Alertness festzustellen z.B. das wiederholte Abfragen eines
Readbacks um ganz sicher zu gehen und eine insgesamt vorsichtigere
Arbeitsweise. Aber auch Abkapselung und Abschottung sind übliche
Reaktionen. Mit der Zeit normalisiert sich das aber wieder, was auch
immer ein Zeichen für die erfolgreiche Bewältigung eines kritischen
Zwischenfalls ist. Dies kann allerdings je nach Typ, körperlicher
Kondition und persönlichem Umfeld unterschiedlich lange in Anspruch
nehmen. In der Regel ist das Ereignis je nach Betroffenheit jedoch nach
etwa drei Wochen bis drei Monaten bewältigt.
Geeignete Maßnahmen für die Aufarbeitung sind jegliche Formen von
Belastungsausgleich. Zum Beispiel Entspannungsübungen wie autogenes
Training oder auch körperliche Betätigung beim Sport. Sehr wichtig ist
aber auch den Kontakt und das Gespräch mit anderen zu suchen. Wenn nicht
mit dem CISM-Team, so doch zumindest mit Kollegen. Dass jemand
verhältnismäßig leicht über seine Erfahrungen redet ist auch immer ein
Zeichen dafür, dass ein incident erfolgreich verarbeitet wird. Während
nach größeren Ereignissen ein Gruppengespräch angeboten wird, ist im
Lotsenalltag z.B. nach einer ernsthaften confliction eher ein
Einzelgespräch üblich. Dies hat die DFS nicht nur in Karlsruhe, sondern
zusammen mit anderen CISM-Beratern auch in den angrenzenden
Niederlassungen inklusive Zürich angeboten.
Nach dem Vorbild und mit Unterstützung der DFS- und LH-CISM-Teams werden
inzwischen bei vielen anderen Flugsicherungen und Airlines vergleichbare
Teams geschult und aufgebaut. Die Erfahrung in Karlsruhe und Zürich hat
gezeigt, dass diese Kollegen absolut ihre Daseins-Berechtigung haben.
CISM schön und gut, aber ich bin jetzt erst mal CT - “critically tired”
und sehne mich nach 'nem Bett zum Ausschlafen. Freundlicherweise hat mir
Peter, jener sehr gute Freund mit den Mega-Directs, schon mal ein Bett
aufgebaut, in dem ich nach der zurückliegenden Nacht ausschlafen kann.
Eine persönliche Bemerkung zum Schluss. Man kann mir durchaus eine
Affinität zu den Lotsen und deren Beruf nachsagen, aber ich habe auch
einen wichtigen Teil deren Ausbildung sechs Monate lang an der
DFS-Akademie in Langen miterlebt. Nicht weil ich selber einer werden
wollte, sondern weil ich die sechs Monate Wartezeit zwischen Flugschule
und Cockpit mit was Sinnvollem füllen wollte und dafür bei der DFS
Arbeit fand. Ich denke man kann sich unseren DFS-Lotsen jederzeit
anvertrauen und die Nachtschicht in Karlsruhe hat nur noch mal
bestätigt, dass dies 24 Stunden am Tag gilt.