London ATC

Ein ganz persönlicher Pilot‘s-Report

 

Die Londoner können‘s doch auch !

 

So oder so ähnlich haben sich schon viele meiner Kollegen geäußert, wenn sie mit der Flugsicherung auf dem Kontinent mal wieder nicht zufrieden waren. Ich habe diese Kritik zuerst nicht verstanden. Aber je öfter ich nach London kam, desto mehr drängte sich der Eindruck auf, dass dort die Fliegerei irgendwie ganz anders (= besser?) abgewickelt wird. Ein kleines bisschen soll dieser Bericht darüber Aufschluss geben, wodurch dieses magische Anziehungsmoment „London" entsteht.

 

Lange habe ich erwogen, in diesem Artikel einen direkten Vergleich zwischen Heathrow und Frankfurt zu ziehen. Was dafür spräche, wären die ähnlichen Verkehrszahlen in ‘99: LHR 451Tsd., FRA 444Tsd. Dagegen spricht aber sicherlich schon das unterschiedliche Bahnenkonzept beider Airports und damit die vollkommen unterschiedliche Taktik bei der Abwicklung des Verkehrs. Einmalig in Europa ist aber sicherlich die Dichte der Airports in der Greater London Area. Innerhalb eines Kreises mit 25nm Radius liegen vier Flughäfen (Heathrow, Gatwick, Stansted und London-City), über die 1999 insgesamt rund 882.000 Flugbewegungen abgewickelt wurden.

Nun, auf jeden Fall lässt es sich nicht leugnen, dass bei soviel Verkehr ein Continuous-Descent-Approach mit einem perfekten Vektor aufs Final mächtig Eindruck macht. Selbst aus dem Holding heraus kann man davon ausgehen, dass man aus FL70 oder FL80 heraus einen Idle-Power-Descent bekommt. Vor allen Dingen kann man mit TCAS immer so schön dabei zugucken. Wohlgemerkt – nicht mitstaffeln, aber zugucken muss erlaubt sein. Unabhängiger Betrieb ist übrigens auch in LHR nicht möglich. Dort sind die Bahnen für einen Parallelbetrieb ebenfalls zu nahe beieinander, so dass maximal ‚staggered approaches‚, vergleichbar zu Hannover, möglich wären.

 

So, nun geht‘s aber los. Der Supervisor führt mich zum ersten Arbeitsplatz. Schon der erste Kontakt mit den Lotsen bestätigt den lockeren Umgang, den wir von der täglichen Arbeit miteinander kennen. Man wird gewohntermaßen als Kollege des „Dualen Systems" Lotse–Pilot begrüßt: „Hi, Andreas. I am Colin. What would you like to know?"

Mit am höchsten belastet sind die Sektoren um SABER und LOGAN. Aus drei Richtungen (Skandinavien, Benelux und Frankreich ) halten die Flüge auf London zu und müssen genau in diesem Bereich über der Themse-Mündung auf die vier großen Plätze verteilt werden. Damit nicht aus Versehen ein Flieger zum falschen Airport geschickt wird, ist jedes Label auf dem Radarschirm mit dem Kürzel für den Zielflughafen versehen (LL für LHR, SS für STN, usw.). Außerdem steht auf jedem Kontrollstreifen der Rufname der jeweiligen Gesellschaft nochmals ausgeschrieben. Das hilft lästiges Auswendiglernen zu vermeiden (manche Gesellschaft gibt‘s nur einen Sommer...) und schafft mentale Kapazität für die eigentliche Aufgabe. Nämlich die Flieger möglichst sicher und effektiv auseinander zu halten.

Dabei ist die technische Ausstattung in West Drayton – in diesem Ort nördlich Heathrow ist das Center untergebracht – nicht unbedingt das, was man up to date nennt. Über dreißig Jahre ist die Anlage schon in Betrieb. Oft unterstützt nur ein Koordinationslotse bis zu vier Radarlotsen. Standard ist ein Co für zwei Radarschirme, die übrigens waagerecht angebracht sind. Die Streifen werden in einer schrägen Ebene darüber abgelegt. So kann der Coordinator, der stehend hinter den Radaristen arbeitet, seine Eintragungen machen, ohne zu sehr im Weg zu sein.

 

Das zwingt natürlich dazu, die Koordination untereinander auf das Mindestmaß zu beschränken und entsprechend effektiv zu halten. Auf die Frage, ob er denn seinen Nachbarn gar nicht mehr anruft, wenn er einen Flieger um ein paar Grad wegdreht, meint Colin: „Wieso? Der sieht den Flieger doch auch auf dem Radar! Daher kommt ja die Anweisung: ‚Report now HDG to London on!‚ ..." Allzu glücklich sind die Londoner Kollegen inzwischen allerdings nicht mehr mit ihrer Ausstattung. „It‘s getting old", so der Kommentar meines Gastgebers. Aber bis zum Umzug ins neue Center nach Swanwick vergehen noch rund eineinhalb Jahre. Einmal mehr bestätigt es sich: Der Mensch macht‘s! Auch und gerade wenn‘s um Sicherheit im Luftverkehr geht!

 

 

Ein Satz heiße Ohren

 

Aber jetzt wird‘s ernst. Colin stöpselt meinen Kopfhörer in die freie Buchse ein, so dass ich live auf dem LOGAN-Sektor mithören kann. „Boah, eehhh", denk ich mir, „die haben Noise-Compensated Headsets." Etwas, auf das ich in meinem 90dB(A)-Cockpit (inkl. der ATC-Dosis) schon lange warte. Erst beim zweiten Hinsehen, Verzeihung „Hinhören", fällt auf, dass die Kopfhörer mehr was mit englischer Tradition als mit moderner Technik zu tun haben. Die Dinger sind so schwer und haben eine solch gute Dämpfung, dass sie beim Einsatz in einer Cessna bequem als passives Headset durchgingen. Dementsprechend schwer fällt mir die Verständigung mit dem Lotsen, wenn er mir eine seiner interessanten Erklärungen zum momentanen Verkehr gibt. Aber die klassische Piloten-Methode schafft Abhilfe. Auf der ersten Position spiele ich noch First Officer, also rechte Ohrmuschel = ATC, linke Hälfte nach hinten geschoben, damit man den Nebenmann auch versteht. Doch kaum kenn‘ ich mich nach rund dreißig Minuten im momentanen Sektor rund um das LOGAN-Fix einigermaßen aus, ist auch schon Crew-Change. Diesmal kommt ein Coach (bzw. Checker) mit ans Board. Auch die Londoner bilden Nachwuchs aus! Dafür braucht‘s aber auch zwei Headset-Buchsen. „Andreas, would you kindly move to the other side?" Aber natürlich. Das gibt meinem rechten Ohr auch die Chance, etwas abzukühlen. Das schwere Headset fordert hier seinen ersten Tribut. Das rechte Ohr hat doch merklich an Temperatur gewonnen. Dankend nehme ich deswegen den linken Sitz neben dem Nachbar-Controller ein. Merke: Besucht man London-ATC, kann es sein, dass man einen Satz heiße Ohren verpasst bekommt.

 

 

Like a Cup of Tea?

 

Nach eineinhalb Stunden bin ich fürs Erste schon mal gesättigt. Alan, mein letzter Radarist, lädt mich auf eine klassische Tasse Tee ein und seiner britisch freundlichen Bitte, doch auch ein Sandwich zu nehmen, kann ich mich nur schwer entziehen. So sitzen wir also beieinander in der Cafeteria und unterhalten uns über ‚German cars‚, die Lebenshaltungskosten in London, den geplanten Umzug nach Swanwick, was er für die Lotsen bedeutet und natürlich über die Fliegerei.

Nach einer halben Stunde Pause dann noch die Möglichkeit neben seiner „Eminenz" persönlich, dem sagenumwobenen, hoch gelobten Heathrow-Approach-Controller zu sitzen und ihm über die Schulter schauen zu dürfen. Von ihnen wird behauptet, sie weisen auch schon mal 163kts auf dem Final an oder drehen einen Flieger gnadenlos weg vom Anflug, wenn er nicht mitspielt. Nun, ich muss gestehen, dass sind so die Legenden, deretwegen ich eigentlich auch die Londoner besuchen wollte. Um herauszufinden, ob‘s denn stimmt. Denn in meiner jungen FO-Karriere ist mir noch nichts dergleichen in LHR passiert. Auf jeden Fall steht den Approachern die deutlich modernere Technik als den Kollegen im Center zur Verfügung.

 

 

Das „4-miles-smile"

 

„Weißt Du", klärte mich Alan auf, der als Approacher anfing, „in meiner Ausbildung wurde sehr streng auf genaueste Staffelung geachtet. Wir kannten das so genannte 4-miles-smile. Damals wurde auf dem Final noch mit vier Meilen gestaffelt und es durften auch nur vier Meilen sein. Keine dreieinhalb und schon gar keine viereinviertel, nein, exakt vier mussten es sein. Jedem, der das geschafft hatte, konntest Du es ansehen. Denn er hatte dieses berühmte 4-miles-smile!" Diese Art von Präzision ist für die Approacher in London schon legendär. Es ist übrigens ein Trugschluss, dass Heathrow-Approach 2,5 Meilen staffelt. Staffelungswert sind standardmäßig (Medium – Medium) drei Meilen. Das ist nicht neu, wird aber mit der oben beschriebenen Genauigkeit konsequent umgesetzt. Bei unterschiedlicher Final-Approach-Speed zweier Medium-Flieger (B737<->A321) läuft der Schnellere (und meistens Hintere) ab Outer Marker nun mal bis auf zweieinhalb Meilen auf. Dies ist laut den Regularien in Heathrow als kleinster Abstand zwischen zwei Flugzeugen auf dem Final noch zulässig.

So wie auf meinem letzten Flug nach LHR geschehen. Der Franzose war bis Short Final exakt 2,5 Meilen voraus. Landing Clearance in 150ft über Grund, das ist man gewöhnt und man rechnet auch damit. Allerdings schickte der Tower-Lotse den Franzosen dafür auch wenig britisch von der Bahn. Der Tonfall bei „... expedite leaving runway" war jedenfalls eindeutig, aber man kennt ja seine Kundschaft.

Im Zwiegespräch mit Jeremy (seinen Nachnamen hab‚ ich nie erfahren) kommt dann auch noch einiges raus, was die Engländer bei uns Piloten so beliebt macht. „Also", erklärt mir Jeremy, „das ist unser Luftraum. Du siehst, dass wir unser Final maximal auf 20 Meilen ausdehnen können, dann ist darunter London-City-Airport. Den fliegen inzwischen auch immer mehr Fluglinien an. Deshalb haben wir kaum Bewegungsfreiheit, weil unser Approach-Airspace auch nur bis FL90 reicht. Trotzdem versuchen wir immer, so viele Flieger wie möglich in unseren Luftraum zu holen, damit das Final jederzeit maximal ausgelastet ist."

 

 

So viel Flieger wie möglich!

 

Da schau her, ‚so viel Flieger wie möglich‚. Auf dem Kontinent drängte sich letzten Sommer(1999) das eine oder andere Mal der Eindruck auf, dass so viel Flieger wie möglich aus dem eigenen Luftraum herausgehalten werden. „Wie macht Ihr das nur mit dem Continuous-Descent-Approach?", frag ich noch. „Nun", meint Jeremy, „wir warten, bis der Flieger nahe genug an der Bahn ist, und nehmen ihn dann runter. Es kann zwar sein, das wir sie tendenziell etwas höher oder tiefer halten müssen, wenn‘s der Verkehr nicht anders erlaubt. Aber generell versuchen wir, wann immer möglich, einen CDA anzubieten." Ah ja, das ist mir auch schon aufgefallen. Man kennt ja den Standard-Call, wenn man in London zum Director geschickt wird: „ ..., good afternoon, 23 track miles, 27L." Ein Blick auf den Höhenmesser, FL70. Jawohl, passt genau. Schon kommt die Descent-Anweisung. Nebenbei wird noch Speed reduziert und konfiguriert und so geht‘s weiter mit Idle-Power zum ILS-Intercept. Ten Miles, established, „maintain 160 to 4 DME, contact TWR 118.7." Alles schön leise mit maximal leicht über Idle-Power. So läuft das tagtäglich in Heathrow ab. Jeremy verdeutlicht: „Wir sind beinahe schon dazu verpflichtet einen Low-Drag-Low-Power-CDA anzubieten, denn immerhin führt der Anflug 27 mitten über die City." Stimmt genau, das letzte Dogleg, das ich auf die 27R flog, führte genau über den ‚Big Ben‚. Da sage noch einer, Lotsen hätten kein Bewusstsein für Fluglärm.

Schade, dass da die Bayern noch nicht draufgekommen sind. Besonders nach 22 Uhr muss man in München seinen Lärmteppich erst bis Niederbayern ausbreiten, bevor man dann in FL70 aufs ILS geführt wird. Offenbar macht in München ein Idle-Power-CDA mit einem perfekten Vektor aufs kurze Final, wie ihn die Lotsen übrigens auch beherrschen würden, mehr Lärm, als wenn man schön gerade fast 8 Minuten lang ein 20-Meilen-ILS abfliegt. Liebe Verfahrensplaner in München, das geht aber bei den meisten Jets leider nur mit Klappen draußen = Widerstand = Power nachschieben = Lärm! Aber genug der direkten Vergleiche.

 

 

Ein paar „Eigenarten" obendrein

 

Noch einige Londoner Eigenheiten seien hier erläutert. Oft bekommt man inbound auf der Lambourne-Arrival nur sehr geringe Heading-Changes. Das dient lediglich dazu, die Flieger möglichst exakt in einem sehr engen Korridor zu halten. Auch den Londonern sind ab und zu Restricted-Areas und die Grenze zum Nachbarsektor im Weg. Die Nennung des ‚Type of Aircraft‚ beim Initial Contact mit Heathrow Approach hängt damit zusammen, dass der Flugzeugtyp nochmals verifiziert wird. Manchmal steht nämlich auf dem Kontrollstreifen nicht der Typ, der auch tatsächlich in der Luft ist. Gleichzeitig bekommt man vom Tower gern mal eine Anweisung wie z.B. „After the preceding <Airline> Airbus A321, cleared to land 27L". Da soll auch sicher gestellt sein, dass dann ein A321 von der Bahn rollt.

Häufig muss man outbound während der Rush-Hour 6000ft bis fast Dover beibehalten. Aber was macht das schon, wenn man nahezu garantiert pünktlich vom Hof kommt! Ein Vergleich sei hier noch erlaubt: Die Durchschnittsverspätung im ganzen UK lag 1999 bei 1,7 min! DFS-Abflüge 1999 an internationalen Flughäfen in Deutschland: 8,5min!

Zurück zu den 6000ft. Die hängen damit zusammen, dass die Stacks für die Gatwick- und Stansted-Arrivals ziemlich nahe an den Heathrow-Departure-Routes liegen und man sich dort möglichst nicht in die Quere kommen will. Man muss übrigens keine Angst haben, dass einem in dieser Höhe irgendwelche Privatflieger entgegen kommen. Auf den Hauptrouten haben die Engländer ausschließlich Luftraum A eingerichtet. Über weite Strecken reicht dieser runter bis auf 3500ft, mindestens aber bis 5500ft. Dafür wird drum herum den vielen Privatfliegern exzellenter FIS-Service geboten. Interessant ist auch, wie man sich in Heathrow an die Operations der einzelnen Gesellschaften anpasst. Wenn einer hinter einer 757 zwei Minuten Departure-Intervall will, dann klemmt der Tower schon mal einen dazwischen, der auch eine Minute akzeptiert. Gern genommen werden da immer die Kollegen, die ihre Basis südlich des Alpenhauptkammes oder weit östlich der Elbe haben. Schon wird die minütliche Departure in LHR sichergestellt und die zwei Minuten hinter der 757 sind für den anderen auch garantiert.

 

 

Service wird groß geschrieben

 

So gehen also fast drei volle, ereignisreiche und interessante Stunden in West Drayton zu Ende. Gerade in dem Moment kommt auch noch die Mitteilung durch, dass meine Kollegen wegen „technischer Probleme" den Descent früher als gewöhnlich begonnen haben. Ohoh! Ein kurzer Blick auf die Uhr bestätigt es. Das ist die Maschine, die wir dann gleich übernehmen sollen. Na ja, man kennt ja die Klimaanlage des A320er und prompt war‘s die dann auch.

Trotzdem waren die drei Stunden bei den Londoner Controllern viel zu kurzweilig, um alles auf einmal zu erfassen. Eines hat sich jedenfalls bestätigt: Service wird in London nicht nur groß geschrieben, er wird gelebt. Ob da auch die britische Mentalität ihren Einfluss zeigt? Nun, das gilt es beim nächsten Besuch herauszufinden.

 

Unabhängig davon kann ich nur jedem Piloten raten, auch mal einen längeren Besuch in einem Center zu machen. Deshalb zum Schluss noch der Aufruf an meine fliegenden Kollegen. Ja! Unsere Freizeit ist extrem wertvoll, aber bitte reserviert euch dieses Jahr einen freien Tag für einen mehrstündigen Besuch in einer Kontrollzentrale. Wer kann von sich sagen, dass er schon mal dem Frankfurt Director zweieinhalb Stunden in der Rush-hour über die Schulter geschaut hat? Bei dieser Gelegenheit ergibt sich vielleicht in der Pause auch eine Runde Kicker-Spielen. Natürlich als Pilot-Lotse-Duo gegen den kläglichen Rest.

 

Die Lotsen, die diesen Artikel lesen, fordere ich auf: Ruft an bei den Fluggesellschaften und bittet um einen Streckenerfahrungsflug! Spendiert also auch ihr einen freien Tag, um uns zuzugucken. Selbst oder vielleicht gerade wenn ihr schon seit über 10 Jahren am Board arbeitet. Unser Pilotenberuf hat sich gewandelt und ist inzwischen weit umfangreicher als gemeinhin bekannt. Am Boden wird immer mehr Arbeit ins Cockpit verlagert. Eine gute Crew erspart dadurch mit ihren Entscheidungen und Maßnahmen dem Arbeitgeber Ausgaben in Höhe des eigenen Jahresgehalts! Und das mehrmals im Monat, ohne auch nur eine Spur die sichere Flugdurchführung zu gefährden.

 

In diesem Sinne wünsche ich allen am/an Bo(a)rd einen angenehmen Sommer!

 

(Quellen: www.nats.co.uk, transmission 2/2000)

 

(c) 2000, Andreas Milde